Wenn Krisenherde zunehmen, die Kosten explodieren – und Hunderttausende für eine andere Klimapolitik oder gegen Rechtsextremismus auf die Straße gehen – dann müssen auch Marken Haltung zeigen. „Mehr Mut – auch angesichts großer Widerstände“ – ein Appell von Dr. Marc Schumacher, CEO der Avantgarde Group, für ein Marketing mit klarer Position.
Zu Beginn des Jahres 2024 müssen wir uns eingestehen: Die Polykrise ist das neue Normal – der Dauer-Ausnahmezustand ist zur Normalität geworden. Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, Energieknappheit, Kostenexplosionen und der erstarkende Rechtsextremismus drohen selbst die spürbaren Folgen des Klimawandels zu überlagern.
Sich gegenseitig beklatschen wie während der Pandemie? Längst vorbei. Der Ton in den sozialen Medien hat sich weiter zugespitzt und polarisiert. Die Filterblasen, in die sich Menschen zurückziehen, um der wachsenden Komplexität der Welt zu entkommen, wirken hermetisch abgeriegelt. Unsere bekannten Ideen entkoppeln sich, das Ganze unserer Erfahrung zerfällt in Fragmente. Emotional erschöpft durch die ständige Negativberichterstattung, suchen Konsument:innen zunehmend Trost im Privaten.
Wie können Markenbotschaften Menschen noch erreichen, die gar nicht mehr erreicht werden wollen? Klassische Marketinginstrumente verlieren an Wirksamkeit – etwas anderes muss dringend an ihre Stelle treten.
Das zeigt auch das Values Index Update 01/24, die neue Auswertung der größten Langzeit-Social-Media-Studie zu gesellschaftlichen Entwicklungen, regelmäßig durchgeführt vom Trendbüro. Die KI-gestützte Analyse von über 12 Millionen deutschsprachigen Posts zeigt eine emotional überforderte Gesellschaft und ihre Reaktionen auf die permanente Überlastung – einen Rückzug auf vielen Ebenen.
Die neuen Top-Werte heißen Freiheit, Gesundheit, Familie und Ehrlichkeit – klassische Werte, die plötzlich wieder Priorität haben. „Back to the basics“ bedeutet auch Konsumzurückhaltung statt demonstrativem Lifestyle. Marken, die relevant bleiben wollen, müssen innehalten und reflektieren: Was wollen Menschen wirklich? Was brauchen sie – und was können wir als Marke darauf antworten?
Mehr Wert bieten. Als Reaktion auf die zunehmende Komplexität der Welt sehnen sich Verbraucher nach grundlegenden Werten wie Ehrlichkeit und Einfachheit, nach Gerechtigkeit und Freiheit. Der Trend zu sparsamen Konsum zwingt Marken dazu, deutlich darzulegen, wo ihr wahrer Mehrwert liegt – über das Materielle hinaus. Sie müssen auch zeigen, was sie zur Heilung der Gesellschaft und des Planeten beitragen. Anlässlich der aktuellen Proteste gegen den Rechtsextremismus positionierten sich selbst große Marken wie Bahlsen (#neveragainisnow) klar gegen Rassismus und Antisemitismus. Auch der FC Bayern hat in Zusammenarbeit mit Sponsor Telekom die preisgekrönte Kampagne "Gegen Hass im Netz" ins Leben gerufen. Bei den großen Fragen können Marken auch jenseits des Spielfelds Orientierung bieten – und sich so profilieren.
Mutige Haltung. In der Polykrise suchen die Verbraucher persönliche Verankerung – auch im Konsum; was wir kaufen, ist ein Bekenntnis zu unserer eigenen gesellschaftlichen Positionierung. Marken müssen daher zu aktuellen Themen eine klare und glaubwürdige Haltung einnehmen – und bereit sein, Widerspruch zu erfahren. Für einen Clip, in dem der Lebensmittelhändler Edeka für #Diversity nicht nur in Supermarktregalen wirbt, wurde das Unternehmen in den sozialen Medien zwar gelobt, aber auch heftig kritisiert. Doch nur Marken, die echten Widerspruch standhalten, vermitteln Sicherheit und Verlässlichkeit.
Verständnis zeigen. Wenn die Menschen eher "zusammenhalten" wollen und die Ränder der Blasen an Durchlässigkeit verlieren, müssen Marken unbedingt die Codes der Verbrauchergruppen kennen, um sie gezielt anzusprechen. Soziale Relevanz entsteht durch Markenerzählungen, die der gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken. "Empathische Marken" schaffen idealerweise nicht nur eine Verbindung zwischen Marke und Mensch, sondern auch zwischen Menschen. Als Sponsor der Handball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland brachte Discounter Lidl den Menschen den Sport durch verbindende Events (z.B. Lidl Fan Sofa) auf verschiedenen Kanälen näher. Die Softwarefirma Salesforce feiert jährlich mit Partys und Aktionen zum Christopher Street Day die Bedeutung von Diversität.
Begegnungen erleichtern. Enttäuscht von den sozialen Medien ziehen sich die Menschen auch von den Medien zurück. Eine Vielzahl von Kommunikationskanälen verliert für Marketer an Bedeutung. Wir erleben die „Renaissance des Greifbaren“ – die Wiedergeburt des Anfassbaren. Angesichts der digitalen Rückzugsbewegungen haben Marken die Möglichkeit, Räume für analoge Begegnungen und Austausch zu schaffen – direkte Kontakte und Gemeinschaftserlebnisse innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Blase, nach denen Menschen als soziale Wesen in Krisenzeiten sehnen. Zum Beispiel eröffnete der Sportartikelhersteller Adidas im Herbst 2023 einen Pop-up-Store in Berlin mit einem Waschsalon-Thema. Im "Adidas Laundromat" gibt es nicht nur neue Artikel, sondern auch Second-Hand-Stücke und die innovative Möglichkeit, Kleidung mit den drei Streifen auszuleihen. Ein Store-Konzept als Statement für mehr Nachhaltigkeit – und gleichzeitig ein trendiger kreativer Raum für Events wie die Berliner Art Week.
Herausforderung und Chance: Die Polykrise als Norm erfordert ein Umdenken. Das Aushöhlen traditionell unterstützender Mega-Institutionen – Staat, Kirche, Familie – eröffnet eine neue Möglichkeit für Markenunternehmen, sich mit den Verbrauchern zu verbinden. Wenn Marken in der Lage sind, oberflächliche Verkaufsinteressen zu überwinden und sich einen Platz in der Welt der Werte zu erarbeiten, können sie ihren Zielgruppen in Krisenzeiten genau das bieten, wonach sie sich sehnen: emotionale Unterstützung und Orientierung.